Der menschenverachtende Anschlagsversuch auf die Synagoge von Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zeigt einmal mehr, wie sich antisemitisches und neonazistisches Gedankengut in der Gesellschaft verbreitet und wie wenig die Politik dem entgegensetzt.
Zuerst einmal gilt es, das vollste Mitgefühl den Hinterbliebenen und Freunden der so sinnlos Getöteten auszusprechen. Niemand wird je verstehen, warum das erste Opfer, eine zufällige Passantin, sterben musste. Brutal und feige in den Rücken, und am Boden liegend nochmals, geschossen. Morde, wie der an einem Gast in einem Döner-Imbiss, sind mittlerweile fast schon Normalität. Denn der auch vom Täter geäußerte Antiislamismus ist medial kaum eine Zeile wert. Bestenfalls, weil es sich um einen Deutschen handelte. Seit der vollkommen unzureichenden Aufarbeitung der NSU-Morde nimmt man solche Verbrechen fast als gegeben. Nein, das sind sie nicht. Kein genommenes Leben darf jemals als Petitesse gesehen werden. Egal, welchen religiösen Hintergrund die Opfer haben, sie sind Opfer, die nicht hätten zu Opfern werden dürfen.
Was in Halle passiert ist, hofften wir eigentlich seit 1945 überwunden zu haben. Doch es war vorhersehbar. Denn das Erstarken von Parteien, die klare Holocaustleugner in ihren Reihen dulden [1], beweist, dass dieses Gedankengut noch oder wieder tief in einem nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft verankert ist. Hier zeigt sich, dass die Politik insbesondere in den Ländern der ehemaligen DDR auch 30 Jahre nach Ende der Diktatur noch keinen Weg gefunden hat, mit diesem inhumanen Handeln umzugehen. Gipfel allerdings wäre die Einstellung der Förderung für das Aussteigerprogramm EXIT [2] oder andere Organisationen, die sich dem Kampf gegen rechts verschrieben haben durch die Bundesregierung. Wer so etwas tut, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Nie war es wichtiger als heute, denen, die ihren Irrweg erkannt haben, einen Ausweg zu bieten und gegen die Gewalt aus dem rechten Spektrum vorzugehen. Und wenn man erfolgreiche Polizeieinheiten wie die Soko Rex in Sachsen auflöst [3], muss man sich über das Erstarken rechtsnationaler Kräfte auch nicht wundern.
In der Öffentlichkeit bemängelt wurde zu Recht, dass am Tattag kein polizeilicher Schutz vor der Synagoge in Halle anwesend war. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Dass erst jetzt in Sachsen-Anhalt wieder begonnen wird, mehr Polizei auszubilden, ist ein Armutszeugnis der vergangenen Jahre. Das Ergebnis dieser vollkommen verfehlten Personalpolitik sehen wir an Taten wie dieser. Wenn der Staat den Platz lässt für einen rechtsfreien Raum, dann ist es traurige Realität, dass dieser von den Kräften besetzt wird, die man eigentlich abhalten möchte. Hier müssen ganz klare Prioritäten gesetzt werden, die in der neuen Polizeireform nicht ausreichend beachtet wurden. Selbst wenn es klappen sollte, dass die Kapazität bis Ende 2020 auf 6.400 Polizeivollzugsbeamte steigt [4], so ist das doch nur ein Beamter auf 345 Einwohner. Auch damit läge der Bestand noch weit zurück hinter vielen anderen Bundesländern. [5] Hier muss dringend nachgesteuert werden im Bestand von Beamten auf der Straße.
Das ist auch eine Piratenforderung für Niedersachsen. [6] Wirkliche Sicherheit schafft man nämlich nicht durch die Ausweitung von Überwachungsmöglichkeiten, wie es das Polizeigesetz auch hier ermöglicht. Wirkliche Sicherheit schafft man mit mehr Polizei auf der Straße. Das muss Priorität haben, will man Parteien und Personen, die von Sicherheit reden und von Unsicherheit leben und die den geistigen Nährboden von Extremismus bilden, verhindern.
Wobei die Frage erlaubt sein muss, ob eine Polizeipräsenz dieses Verbrechen verhindert hätte. Weder auszuschließen noch unwahrscheinlich ist, dass Polizisten vor Ort, die meist in einem Fahrzeug sitzen, die ersten Opfer geworden wären. Dass die Entschlossenheit der Attentäter nicht von Uniformen abgeschreckt wird, wissen wir seit dem NSU-Mord an Michele Kiesewetter. Dass hier Akten zum NSU für 120 Jahre [7] geheim gehalten werden sollen, lässt die Annahme zu, dass bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft Verbindungen bestehen, die Deutschland bis tief ins Mark erschüttern würden, würden sie bekannt. Was würde wohl durch und über die 497 Gesuchten aus dem rechten Spektrum zu erfahren sein, bei denen man angeblich kaum weiß, wo sie sind? [8]
[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article172556716/AfD-Mitglied-Gedeon-darf-Holocaust-Leugner-genannt-werden.html
[2] https://www.exit-deutschland.de/meldungen/finanzierung-der-arbeit-von-exit-deutschland-ab-2020-unklar-teil-2
[3] https://www.lvz.de/Region/Mitteldeutschland/Sachsens-bildet-neue-Soko-Rex-gegen-Rechtsextremismus
[4] https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/landespolitik/reaktionen-neues-polizeigesetz-fuer-sachsen-anhalt-100.html
[5] https://rp-online.de/politik/so-gut-ist-die-polizei-in-den-bundeslaendern-aufgestellt_bid-9682819#2
[6] https://wiki.piratenpartei.de/NDS:Wahlprogramm_LTW_2017#Bessere_Ausstattung_von_Polizei_und_Justiz
[7] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_84106974/warum-bleibt-die-nsu-akte-120-jahre-unter-verschluss-.html
[8] https://www.morgenpost.de/politik/article226164923/Nicht-zu-fassen-500-gesuchte-Rechtsextreme-auf-freiem-Fuss.html
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Bei den mit Haftbefehl Gesuchten aus dem „rechten Spektrum“ muß ich immer an die massive Polizei-Berichterstattung denken, als nach angeblichen oder tatsächlichen G20-Gewalttätern gesucht wurde. Und läuft das nicht sogar immer noch? Da wurden fett Kapazitäten aufgefahren, um diese Leute zu finden, das ist unglaublich! Aber klar, die wurden ja auch als „links“ eingestuft.
Ich verfolge den bundesweiten Polizeiticker seit ein paar Jahren relativ konsequent. Ich habe noch nicht einen einzigen Fahndungsaufruf gesehen, der sich auf diese Haftbefehle bezieht.
KEINEN.
Und das sagt leider sehr viel über unsere Polizei aus.